Ann-Marie Ljungberg: Dunkelheit, bleib bei mir

 

ljungberg_1Ein Foto vom Tag danach: Schnee türmt sich entlang der Straßen. Hinter einem Zaun drängen sich Schaulustige, blicken auf dicke Rauchschwaden, zwischen denen ein Kamin aufragt. Der blieb stehen, als am 3. März 1940 das Redaktionsgebäude der sozialistischen Zeitung Norrskensflamman im nordschwedischen Luleå von Terroristen gesprengt wurde.

Der da durch die Märznacht des Jahres 1940 torkelt, ist Paul Wilhelmsson, Protagonist und einer der Attentäter in Ann-Marie Ljungbergs Roman „Dunkelheit, bleib bei mir“. Wilhemsson ist eine fiktive, aber glaubhaft gezeichnete Figur, die Ljungberg ebenso wie andere Charaktere ihres Romans den historischen Attentätern nachempfunden hat. Im Falle Wilhemssons war das der Journalist Gunnar Hedenström, der für den Norrbottens-Kuriren schrieb, die andere Zeitung in Luleå, einer kleinen Stadt an der Küste Nordschwedens, unweit der finnischen Grenze. Finnland befindet sich im Krieg mit der Sowjetunion. Durch diese räumliche Nähe wächst bei Wilhelmsson, wie bei manch anderem im neutralen Schweden, die Angst, die Rote Armee könnte sich, nachdem sie Finnland überrannt hat, auch gleich das rohstoffreiche Nordschweden unter den Nagel reißen. Als Feind im eigenen Land hat Wilhemsson zusammen mit einigen strammen Rechten, darunter auch ein seltsam entrückt wirkender städtischer Beamter, die sozialistische Zeitung Norrskensflamman ausgemacht. Die Männer beschließen, die Redaktionsräume zu sprengen. Fünf Menschen sterben, darunter zwei Kinder. Bis heute gilt dieser Anschlag als der Schwerste in der schwedischen Geschichte.

Wie wird ein Mensch zum Attentäter? Dieser Frage geht die 1964 geborene, in Nordschweden aufgewachsene, heute in Göteborg lebende Autorin Ann-Marie Ljungberg nach, indem sie sich erzählerisch an die Fersen des Journalisten Wilhelmsson heftet. Für ihren Roman hat sie in Archiven recherchiert – und sich an die Erzählungen ihres Großvaters erinnert, der damals in Luleå lebte. Aus diesem Material hat sie, wie sie im Nachwort schreibt, ihre Figuren und eine Geschichte destilliert.

Jede Person, die in diesem Buch auftritt, existiert, und zwar in meinem Kopf. In diesem Buch kommen Begebenheiten vor, die tatsächlich niemals geschehen sind. Und es gibt auch Begebenheiten, die sich zwar ereignet haben, die aber nicht vorkommen. Das historische Ereignis, der Anschlag auf den Norrskensflamman im März 1940, zerfällt, zersplittert.

Die historischen Informationen zu dem Anschlag und den Männern, die ihn ausführten ergeben nur auf den ersten Blick ein scharfes Bild. Sobald man näher hinschaut, tun sich Lücken auf. Und weil sich Ljungberg für genau diese Lücken interessierte, musste sie den Stoff fiktionalisieren. In kurzen Kapiteln springt sie zwischen zwei Zeitebenen hin und her, folgt ihren Protagonisten ein paar Wochen vor und nach dem Anschlag. Zentral sind dabei die Gerichtsszenen, in denen der Angeklagte Wilhemsson die Aussagen seiner Mitstreiter verfolgt, die versuchen, ihm die Hauptschuld zuzuschieben. Es sind knappe Sequenzen, die Ljungberg zwischen jene Passagen geschnitten hat, in denen sich die Männer zu Terroristen entwickeln. Zunächst organisieren sie den Aufbau einer Freiwilligenarmee mit, die Schweden in Finnland gegen die Sowjets verteidigen soll. Doch als ein Sieg der Roten Armee immer wahrscheinlicher wird, beschließen sie, gewaltsam etwas gegen die sozialistische Propaganda im eigenen Land zu unternehmen.

Ljungberg setzt geschickt Mosaiksteine zusammen, die am Ende das Bild eines Enttäuschten und Verbitterten ergeben, der ernsthaft glaubt, mit der Sprengung einer Zeitungsredaktion könne er eine politische Idee vernichten. Am liebsten hätte sich Wilhelmsson selbst der Freiwilligenarmee angeschlossen, doch kann er einer Tuberkulose-Erkrankung in seiner Kindheit wegen nicht Soldat werden. Außerdem kommt eine Jugendliebe Wilhelmssons in die Stadt zurück, und auch sie bringt sein Lebenskonzept ins Wanken, lässt ihn an seiner freudlosen Ehe zweifeln.

Ljungberg treibt ihre Geschichte im Präsens voran, schafft so Nähe und Unmittelbarkeit. Ihr sachlich, nüchterner Stil wirkt bisweilen etwas spröde, doch gewinnt ihr Roman, je vertrauter die Namen und Milieus, je deutlicher die Zusammenhänge werden, zunehmend an Komplexität. Zumal Ljungberg wie nebenbei auch von der lähmenden Ungewissheit und von einer gespaltenen Gesellschaft jener Zeit erzählt, wobei der vermeintliche Gegner nicht immer leicht auszumachen ist. Gelegentlich findet er sich ganz in der Nähe, wie Wilhelmsson am Tag nach dem Attentat bei einer flüchtigen Begegnung mit seiner Jugendliebe Edit aufgeht.

Er betrachtet sie eine Weile. Ihre Augen funkeln so lebhaft und gleichzeitig so schmerzvoll, dass er sich vorbeugen, ihre Hand nehmen und ihr sagen will, dass sich schon alles finden wird und dass er ihr helfen wird…doch dann kommt die Einsicht. Nicht einschneidend, sondern ganz selbstverständlich. Edit ist Kommunistin.

Wie groß dieser gesellschaftliche Riss war, verdeutlicht Ljungberg nochmals im Nachwort, in dem sie von einer Kindheitserinnerung erzählt.

Meine allererste und emotionalste Erkenntnis in Luleå war, dass es mit den Zeitungen etwas Besonderes auf sich hatte. Welche Zeitung man in Norrbotten meiner Kindheit abonnierte, war eine wirklich ernstzunehmende Sache. Ernster, als eigentlich Anlass dazu bestanden hätte.

Ein spannender, sorgfältig komponierter Roman ist Ljungberg da gelungen, in dem sie versucht, Antworten zu finden, sich aber bewusst ist, dass sie sich solchen Antworten allenfalls nähern kann. Sie markiert jene Punkte im Leben des Paul Wilhemsson, an denen sich für ihn die Weichen Richtung Extremismus stellen. Dabei ist viel Irrationalität im Spiel, manche Entscheidung fußt auf banalen sozialen Zwängen und gruppendynamischen Prozessen. Da radikalisiert sich einer, der beruflich eine rosige Zukunft vor sich hat innerhalb weniger Wochen, da wird ein gesellschaftlich Integrierter erst zum Außenseiter, dann zum Mörder. Damit hat Ljungberg nicht nur einen Roman über ein Attentat im Jahr 1940 geschrieben, sondern auch zu einem Thema, das brandaktuell ist.

Ann-Marie Ljungberg: Dunkelheit, bleib bei mir. Aus dem Schwedischen von Eva Scharenberg. Mit einer Einführung von Björn Sandmark. Weidle-Verlag, 208 Seiten, 23 Euro.

(c) Frank Rumpel

Gesendet auf SWR 2.

Dieser Beitrag wurde unter Kein Krimi veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.