Colin Cotterill: Dr. Siri und die Tränen der Madame Daeng

Dr Siri und die Traenen der Madame Daeng von Colin Cotterill

74 Jahre alt ist der kauzige Dr. Siri Paiboun. Er ist ein wacher, eigensinniger Geist, der schon mal heimlich einen unentwegt plärrenden Lautsprecher der kommunistischen Regierung sprengt – einfach weil er nervt. Im aktuellen Roman befinden wir uns im Jahr 1978. Drei Jahre zuvor haben in Laos nach einem langen Krieg die Kommunisten das Ruder übernommen. Seither herrscht zwar Frieden in dem kleinen, buddhistisch geprägten Land zwischen Vietnam, China, Birma und Thailand, doch bestimmt Misswirtschaft alle Bereiche des täglichen Lebens.

Eigentlich sollte ich den Jeep des Militärs benutzen. Nach meiner Ankunft habe ich ihn mir angesehen. Die Armisten hier haben schon seit Monaten keinen Sold mehr bekommen, also haben sie kurzerhand die Räder abmontiert und sie verkauft, um sich mit Proviant versorgen zu können.

Das sagt Civilai, ein alter Zyniker, ehemaliges Mitglied des Politbüros und enger Freund des pensionierten Arztes Dr. Siri. Der – also: Dr. Siri – dachte zunächst, er könne seinenLebensabend genießen, doch berief ihn die Regierung auf seine alten Tage zum amtlichen Leichenbeschauer. So beginnt der erste Siri-Roman. Und weil er zu diesem Zeitpunkt, also 1976, der einzige Pathologe in ganz Laos war, hatte er alle Hände voll zu tun. Zudem nahm sich Siri in verzwickten Fällen auch gleich der Ermittlungen an, die seinen scharfen Verstand ebenso forderten, wie seine Verbindung ins Geisterreich. Denn in Siris Körper haben es sich eine ganze Reihe verstorbener Seelen bequem gemacht, und die mischen sich auch im aktuellen Fall immer mal wieder ein.

Im Jahr 1978 nun ist Siri tatsächlich im Ruhestand, doch sorgt sein guter Ruf als gewiefter forensischer Ermittler dafür, dass er immer noch gern um Hilfe gebeten wird. Im neuen Roman „Dr. Siri und die Tränen der Madame Daeng“ kommt dieser Hilferuf aus dem Norden des Landes – und zwar in Form eines kunstvoll gewebten Rockes, in dessen Saum ein Finger eingenäht ist. Siri und seineEhefrau Daeng, die lange Jahre als kommunistische Partisanin im Dschungel kämpfte und später in der Hauptstadt Vientiane eine legendäre Nudelküche betrieb, reisen nach Norden. Auch Siris Kumpel Civilai stößt dazu und zusammen begeben sich die drei Senioren auf eine Art Schnitzeljagd. Sie sammeln in den Bergdörfern weitere, mit aufwändigen Mustern versehene Röcke ein, die zusätzliche Hinweise enthalten. Zur selben Zeit untersucht ihr Bekannter Phosy, ein hochrangiger Polizist, in derselben Gegend den gewaltsamen Tod zweier Dorfvorsteher. Er verdächtigt den Vorarbeiter eines riesigen chinesischen Bautrupps, der dort oben in den Bergen Straßen durch den Dschungel baut. Und irgendwie scheint das alles zusammenzuhängen.

Der 1952 in London geborene, seit langem in Thailand lebende Colin Cotterill fährt auch in seinem zehnten Dr. Siri-Roman die bekannten Ingredienzien auf: einen skurrilen Fall, das bewährte Ermittler-Personal und viel laotischen Alltag. Letzterer meint bei Cotterill übrigens keineswegs nettes Lokalkolorit. Cotterills Stärke ist sein zugespitzter Realismus, der auf Ortskenntnis basiert.

Die Landschaft war nicht besonders imposant. Ein paar Hügel. Das eine oder andere Tal. Unscheinbare Dörfer ohne Ortsschild. Und so kamen sie nach nur drei Zwischenstopps, bei denen sie ihre altersschwachen Blasen entleert und ihr Frühstück – ein Teller fetttriefender Spiegeleier – erbrochen hatten, in ein Dorf, das so klein war, dass sie sich noch nicht einmal nach seinem Namen erkundigten.

Cotterill lebte selbst einige Jahre in Laos, hat dort mit vielen Leuten über das Leben in den 70er Jahren geredet. Entsprechend differenziert fällt sein historisches Bild des Landes aus. Im aktuellen Roman geht es unter anderem um die Situation der Bergvölker im Norden, um die wirtschaftlichen Abhängigkeiten von China und Vietnam oder um den blühenden Drogenhandel. Im Zentrum aber steht die damals aktuelle Invasion Chinas in Nordvietnam, nachdem die Vietnamesen wiederum in Kambodscha einmarschiert waren, um das dort seit vier Jahren wütende Pol Pot-Regime zu stürzen. Laos könnte da mal wieder zwischen die Fronten geraten. Hier analysiert Civilai die Lage.

Wenn uns die Chinesen jetzt nicht militärisch überfallen, unterwandern sie uns früher oder später kommerziell. Wir sind derart reif zur Plünderung, dass sie uns nicht länger ignorieren können.

Da hat der Autor den alten Haudegen Civilai mit prophetischer Gabe ausgestattet, denn tatsächlich ist der chinesische Einfluss in Laos heute beträchtlich. Überhaupt zeichnet Cotterill, der eigentlich lieber als Comic-Künstler bekannt geworden wäre, seine Figuren mit viel Empathie. In seinen Siri-Romanen arbeitet er mit mehreren, sich gut ergänzenden Protagonisten, die in allen Büchern mit dabei sind. Dazu zählen Siris ehemalige Assistentin, die scharfsinnige Dtui, und deren Helfer Herr Geung, der, wie es im Roman heißt, „mit der Unschuld des Down-Syndroms gesegnet“ war. Zusätzlich schickt Cotterill im zehnten Band mit dem so genannten Waran eine Gegenspielerin ins Rennen, die Siri bereits in Band 4 das Leben schwer machte und die in Band 5 als royalistische Terroristin entlarvt und anscheinend hingerichtet wurde. Gerade im Geplänkel zwischen den Protagonisten gibt es jede Menge gut nachvollziehbare Bezüge auf den Siri-Kosmos, der sich von Band zu Band weiter entwickelt – wenngleich in laotischem Tempo, also sehr gemächlich. Lagen die ersten Geschichten um Dr. Siri zeitlich stets nur ein paar Wochen auseinander, hat Cotterill in den letzten Bänden zum Glück etwas größere Sprünge gemacht, so dass auch die politischen Entwicklungen um Laos herum besser zum Tragen kommen.

Was diese Serie auszeichnet, ist zum einen der ungeschönte Blick auf die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse jener Zeit. Wobei Colin Cotterill die missliche Lage im Land nur allzu gern als Steilvorlage nimmt. Seine eher leisen, ziemlich komischen Romane sind vollgepackt mit skurrilen Figuren, bizarren Situationen und pointierten Dialogen – und doch schildert der Autor den laotischen Alltag sehr freundlich und zugewandt. Dieses Konzept funktioniert tatsächlich auch im zehnten Aufguss noch ganz gut, weil Cotterill frisch und spritzig erzählt – vorausgesetzt man schätzt die immer gleichen Muster und Figuren.

Colin Cotterill: Dr. Siri und die Tränen der Madame Daeng. Aus dem Englischen von Thomas Mohr. Goldmann-Verlag, 322 Seiten, 20 Euro.

(c) Frank Rumpel

Veröffentlicht bei SWR 2

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